Alles, was wir geben mussten

Es gibt Filme, über die glaubt man alles zu wissen, obwohl man sie noch gar nicht gesehen hat. Wenn man bereits eine Menge ähnlicher Streifen kennt, entwickelt man schnell anhand des Trailers und des wenigen, was man im Vorfeld über die Geschichte erfährt, eine genaue Vorstellung dessen, was einen erwartet. Wodurch die Neugier zwangsläufig auf der Strecke bleibt. Oft genug hat man sogar recht – aber manchmal liegt man auch total daneben.

Alles, was wir geben mussten

Mir ging es zuletzt so mit Alles, was wir geben mussten, der vergangenen Sonntag auf Pro7 lief. Normalerweise schaue ich ungern Filme mit Werbeunterbrechung, es sei denn, ich erwarte sowieso nichts von ihnen und überlege, in der ersten Pause auszumachen. Der Regisseur Mark Romanek sagte mir nichts – er hat One Hour Photo gemacht, der nur mittelprächtig war, und ansonsten Musikvideos – und die Geschichte erinnerte stark an Die Insel von Michael Bay. Ein Klon-Thriller also, nichts, was mich brennend interessiert, ganz im Gegenteil, Wissenschaftsthriller sind häufig langweilig, und übers Klonen gab es schon etliche Filme, die allesamt enttäuschend waren. Die einzige Ausnahme stellt die britische Serie Orphan Black dar, die absolut sehenswert ist – und die mich zunächst auch einige Überwindung gekostet hat (aber dazu vielleicht ein anderes Mal mehr).

Alles, was wir geben mussten erzählt die Geschichte dreier junger Leute, die in einem schicken Internat aufwachsen. Eine Lehrerin (Sally Hawkins) verrät den Kindern, dass sie Klone sind, Kopien von Menschen, denen sie, wenn sie erwachsen sind, ihre Organe spenden müssen. Nach dem Internat ziehen die drei Halbwüchsigen Kathy (Carrey Mulligan), Tommy (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightly) auf ein Dorf, wo sie darauf warten, dass sie ihre erste Spende leisten müssen. Obwohl Kathy in Tommy verliebt ist, hat er sich auf die Avancen der lebhaften Ruth eingelassen, was zu Spannungen zwischen den Freunden führt. Schließlich verlässt Kathy die Gruppe, um sich als Betreuerin um Organspender zu kümmern und sie bis zu ihrem Tod zu begleiten. Jahre später trifft sie ihre Freunde wieder…

Das Drehbuch von Alex Garland basiert auf dem Roman von Kazuo Ishiguro, von dem auch die Vorlage zu Was vom Tage übrig blieb stammt, einem meiner Lieblingsfilme. Auch aus diesem Grund war ich neugierig und fühlte mich auch sofort an diesen erinnert. Die elegische Grundstimmung, die unaufgeregte, traumhafte Erzählweise spiegeln anscheinend genau den Geist der Romane Ishiguros wider, aber das ist nur eine Vermutung, da ich noch nichts von ihm gelesen habe. Die Atmosphäre nimmt einen von der ersten Minute an gefangen, und die wunderschöne Musik tut ihr übriges dazu, dass man sich in dem Film verliert (zumindest bis die Werbepausen einsetzen). Und wie jedes Mal, wenn ich von einer Filmmusik völlig begeistert bin, stammt sie von Rachel Portman…

Dramaturgisch hat der Film leider etliche Mängel, was entweder im Roman selbst begründet ist oder an einer mangelhaften Adaption liegt. Die Dreiecksgeschichte, die sich entspinnt, die Verquickung von Liebe und Verlust, von Unschuld und Sehnsucht, funktioniert wunderbar. Die drei Hauptdarsteller agieren wie immer großartig und wachsen einem auch sofort ans Herz, sogar die zickige Ruth. Was mich aber die ganze Zeit gestört hat, war die schicksalsergebene Passivität der Figuren, die an drei Lämmchen erinnern, die freimütig zur Schlachtbank hüpfen. Vielleicht wird das im Roman besser und ausführlicher erklärt. Auch der gesellschaftliche Kontext, der bruchstückhaft und rätselhaft bleibt, könnte einen größeren Raum einnehmen, es gibt nur sparsame Erklärungen, und vielleicht ist gerade deshalb das Grauen, das diesen Film durchzieht, so besonders groß, auch weil es ein Grauen vor uns selbst ist.

In gewisser Weise ist die Story das genaue Gegenteil von der Krach-Bumm-Action eines Michael Bay, und das ist auch gut so. Alles, was wir geben mussten ist ein tieftrauriger, wunderschöner Film über die Liebe, das Leben und das Abschiednehmen, der einen noch lange danach begleitet. Leider kein perfekter Film, denn das Drehbuch beantwortet die wichtigsten Fragen nicht und lässt die Geschichte deshalb unplausibel wirken, was auch daran liegt, dass die Welt, in der sie spielt, unzureichend etabliert wird. So ist es zwar ein guter Film, aber es hätte auch ein Meisterwerk werden können.

Note: 2-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.